unvorhergehört / projekt 2.05

konzert 05
garth knox | viola

01 februar 2009 | 19:45 uhr (einlass 18:30 uhr)

michael struck-schloen | moderation

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    vvk: 10 euro zzgl. vvk-gebühren | ak: 15 euro

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    01. februar 2009

    garth knox | viola

    giacinto scelsi | manto I
    james dillon | siorram
    marcus antonius wesselmann | solo 4
    - pause -
    salvatore sciarrino | tre notturni brillanti
    garth knox | viola spaces
    györgy ligeti | sonate (I, II, V, VI)

    garth knox

    biographie



    Biographie

    Garth Knox wurde in Irland geboren und wuchs in Schottland auf. Als Jüngster von vier Geschwistern, die alle Streichinstrumente spielen, lernte er Viola und entschied sich schon früh, Musiker zu werden. Er studierte am Royal College of Music in London bei Frederick Riddle und gewann schon bald mehrere Preise für Viola und für Kammermusik. Nach dem Studium spielte er mit fast allen führenden Gruppen in London verschiedene Repertoires vom Barock bis zu Neuer Musik.

    1983 lud ihn Pierre Boulez ein, Mitglied des Ensemble Intercontemporain in Paris zu werden. Dort erhielt er die Chance als Solist aufzutreten - auch bei Konzerten, die von Pierre Boulez dirigiert wurden – und Kammermusik zu spielen. Zusammen mit dem Ensemble Intercontemporain war er weltweit auf Tournee und spielte auf internationalen Festivals.

    1990 wurde er Mitglied des Arditti String Quartetts und trat in allen wichtigen Konzertsälen der Welt auf. Er arbeitete eng mit den führenden Komponisten der Gegenwart zusammen und spielte Uraufführungen von Ligeti, Kurtág, Berio, Xenakis, Lachenmann, Cage, Feldmann und Stockhausen (das bekannte helikopter-quartett).

    1998 verließ Garth Knox das Quartett, um sich auf seine Solokarriere zu konzentrieren. Als Solist wurden von ihm Stücke verschiedener Komponisten uraufgeführt, so Kompositionen von Henze (der die Viola Sonata ihm gewidmet hat), von Ligeti, Schnittke, Ferneyhough, James Dillon, George Benjamin und vielen anderen. In letzter Zeit gab Garth Knox Konzerte in Köln, er trat als Solist in Brüssel, Wien und Paris und an anderen Orten auf, spielte Aufnahmen für den WDR in Deutschland ein, brachte die Komposition für zwei Violas von Peter Eötvös zusammen mit Tabea Zimmermann zur Uraufführung und spielte zusammen mit Kim Kashkashian eine Serie von Duo Konzerten.

    In letzter Zeit wurde er zu einem Pionier auf der Viola d’Amore, deren Möglichkeiten für Neue Musik er entdeckt hat – mit und ohne Elektronik. Gegenwärtig erarbeitet er ein neues Repertoire für dieses Instrument.

    Garth Knox lebt in Paris, wo er sich ganz seiner Solokarriere widmet. Er gibt Solokonzerte, tritt als Solist mit Orchester und bei Kammermusik Konzerten in ganz Europa, den USA und Japan auf. Kürzlich hat er eine Solo CD herausgebracht (MO 782082), hat den begehrten Deutschen Schallplattenpreis gewonnen und wurde für die letzte CD „Spectral Viola“ (edition zeitklang) mit höchstem Lob bedacht. Gegenwärtig ist er Professor für Viola am Musikene in San Sebastián.

    der interpret



    Der Bratschist Garth Knox

    Ihren eigentümlichen, im Vergleich zur Violine oder zum Cello etwas ungewohnten Klang verdankt die Viola, wenn man so will, einem instrumentenbautechnischen „Mangel“. Schon 1819 stellte der Physiker Felix Savart fest, dass die Viola oder Bratsche – die Bezeichnung leitet sich von „Viola da braccio“ (Arm-Viola) ab – eigentlich viel zu klein ausfällt. Bemessen am Tonumfang des Instruments müsste sein Korpus, das im Durchschnitt nur rund dreizehn Prozent voluminöser als das der Geige ist, etwa um die Hälfte größer sein, um im Timbre und in der Tongebung eine ähnliche Ausgewogenheit aufzuweisen. Jedoch ließe sich das Instrument dann eben auch nicht mehr mit dem Arm halten, sondern müsste, wie die größere Viola da Gamba, zwischen den Beinen gespielt werden.
    Nun hat gerade der leicht nasale, zuweilen etwas kehlige und gepresste Ton des besaiteten Alts seinen besonderen Reiz. Er wird meist mit Melancholie, Schwermut und Trauer, aber auch mit Leidenschaft und Sehnsucht konnotiert und ließ die Viola zum bevorzugten Instrument für elegische Klage- und Trauergesänge geraten. Dass sie dennoch lange Zeit von den Komponisten verschmäht blieb, hatte nicht nur mit der großen Beliebtheit der Violine zu tun. Vor allem der satztechnische Wandel hin zum homophonen Satz der Klassik, der im Unterschied etwa zum Chorsatz der Renaissance den Mittelstimmen meist nur eine untergeordnete Rolle zuwies, degradierte die Viola zum Instrument der weniger exponierten „Füllstimmen“. Im 20. Jahrhundert änderte sich dies jedoch grundlegend, als Komponisten wie Paul Hindemith, Igor Strawinsky, Salvatore Sciarrino, Alfred Schnittke, Morton Feldman, Bernd Alois Zimmermann, James Dillon oder György Ligeti – um nur einige zu nennen – die Viola als ausdrucksstarkes Solo-Instrument entdeckten.
    Dass die Bratsche heute in den Konzertsälen regelmäßig vertreten und von zeitgenössischen Komponisten mit entsprechenden Werken bedacht wird, daran hat auch der in Irland geborene Bratschist Garth Knox einen erheblichen Anteil. In eine musikalische Familie hineingeboren, die – als er vier Jahre alt war – nach Schottland übersiedelte, begann Garth Knox mit fünf Jahren zunächst das Spiel auf der Violine. Da die beiden älteren Schwestern bereits Geige und der Bruder das Cello spielten, lag für ihn nichts näher, als zur Viola zu wechseln und damit das familiäre Streichquartett zu komplettieren. So gehörte das regelmäßige Musizieren in der klassischsten aller Streicherformationen sowohl daheim als auch in der Schule zu den wichtigsten musikalischen Erfahrungen des jungen Garth Knox. Mit der Aufnahme in das schottische National Youth Orchestra bekam er dann nicht nur die ersten Einblicke in das Orchesterspiel, sondern hier lernte er mit Frederick Riddle, dem Viola-Coach des Orchesters, auch seinen zukünftigen Mentor und Hochschullehrer kennen.
    Zur Neuen und zeitgenössischen Musik, die fortan die zentrale Rolle in seiner außergewöhnlichen Karriere spielen sollte, stieß Knox dann während seines Studiums bei Riddle am Londoner Royal College of Music. Ein Schlüsselerlebnis ereignete sich beim Festival Cantiere Internazionale d’Arte im italienischen Montepulciano, wo der Komponist Hans Werner Henze auf ihn – als Mitglied einer studentischen Kammermusikformation – aufmerksam wurde und gleich auch ein Violastück für ihn schrieb. „Das war ein Wendepunkt für mich“, so Knox, „da ich zum ersten Mal ein Stück erarbeiten musste, das niemand anderer kannte und das in keiner Aufführungstradition stand. Ich konnte niemanden um Hilfe bitten, also arbeitete ich ganz unvoreingenommen eine Interpretation aus und tüftelte daran, wie die vielen technischen Schwierigkeiten zu lösen seien. Ich bekam einen ersten Eindruck davon, wie es ist, selbst die Maßstäbe zu setzen und neue Wege zu beschreiten, und das mochte ich!“
    Nach dem Studienabschluss verschlug es Garth Knox allerdings zunächst nach Venedig, wo er als Stimmführer im Orchester des Teatro La Fenice und im Ensemble I Solisti Veneti meist alles andere als zeitgenössische Musik aufführte. Doch die neue Musik sollte ihn bald wieder in ihren Bann ziehen: „So schön es war, italienische Opern zu spielen, aber als ich 1983 von einer freien Stelle in Pierre Boulez’ Pariser Ensemble Intercontemporain hörte, wusste ich, dass ich dorthin musste.“ Knox bekam die Stelle und damit die Chance, als Solist mit oder als Ensemblemusiker in diesem Spitzenensemble unter Pierre Boulez und anderen herausragenden Dirigenten zu spielen. Weltweite Konzertreisen, Auftritte in den großen Konzerthäusern und bei internationalen Festivals sowie die enge Zusammenarbeit mit Komponisten gehörten fortan zum täglichen Geschäft.
    Dass Knox sich in diesem erlesenen Umfeld einen Namen machen konnte, zeigen nicht nur die Kompositionen, die für ihn geschrieben wurden, sondern auch 1990 die Anfrage des Arditti Quartet (des in der zeitgenössischen Musik nach wie vor international führenden Streichquartetts), das nach dem Ausscheiden Levine Andrades einen Bratschisten suchte und schließlich Knox als Ensemblemitglied gewinnen konnte. Mit den „Ardittis“ hatte Knox, der nebenher auch weiterhin seine solistische Karriere verfolgte, dann einen nicht weniger anspruchsvollen Terminkalender zu bewältigen: Rund 80 Konzerte bestritt das Quartett in dieser Zeit jährlich weltweit (u.a. auch mehrfach in Köln), und in jeder Saison galt es, etwa 30 bis 40 neue Kompositionen einzustudieren, darunter Werke von György Ligeti, György Kurtág, Luciano Berio, Iannis Xenakis, Helmut Lachenmann, John Cage, Morton Feldmann und Karlheinz Stockhausen, dessen spektakuläres helikopter-quartett Garth Knox mit seinen Kollegen zur Uraufführung brachte. Zudem spielte er nicht weniger als 36 CDs mit dem Arditti Quartet ein. Nach gut sieben Jahren verließ Knox die „Ardittis“, um sich verstärkt seiner Solokarriere zu widmen, zugleich im bis dahin arg beanspruchten Privatleben unabhängiger zu sein und sich wieder dauerhaft in Paris niederzulassen, wo er bis heute lebt.
    Die zeitgenössische Musik blieb für Knox aber weiterhin der Mittelpunkt seines Wirkens – seine vom WDR produzierte Solo-CD „spectral viola“ mit Einspielungen von Werken von Gérard Grisey, Tristan Murail, Georg Friedrich Haas, Giacinto Scelsi und Horatiu Radulescu dokumentiert dies eindrücklich. Seit einiger Zeit stellt Knox seine immensen spieltechnischen Fertigkeiten jedoch nicht mehr ausschließlich in den Dienst neuerer oder zeitgenös-sischer Musik. So spielte er jüngst auf der im 19. Jahrhundert fast völlig in Vergessenheit geratenen Viola d’amore (die statt vier meist fünf bis sieben Saiten besitzt und in der Bauform etwas größer ist) Musik aus der Renaissance und dem Barock auf CD ein.
    Für das heutige Konzert wählte er dagegen ausschließlich Musik der zweiten Hälfte des 20. sowie des beginnenden 21. Jahrhunderts – ein Programm, in dem sich nicht zuletzt auch die Erfahrungen niederschlagen, die Garth Knox (der zurzeit eine Professur am Musikene in San Sebastián inne hat) als Viola-Lehrer machte. Seine zwischen 2005 und 2007 komponierten viola spaces, von denen Knox heute nine fingers, one finger und up, down, sideways, round aufführt, sind einerseits als virtuose Konzertetüden zu verstehen, widmen sich jedoch andererseits jeweils ganz spezifischen, gerade für die zeitgenössische Musik relevanten Problemstellungen. So ist nine fingers, durchgängig im Pizzikato, ganz ohne Bogen gespielt, wobei nur der linke Daumen als einziger Finger nicht beteiligt ist. one finger ist dagegen eine Glissando-Studie, während up, down, sideways, round die möglichen Bewegungsrichtungen des Bogens auslotet und erprobt.

    Andreas Günther

    die komponisten



    Giacinto Scelsi: manto I

    Giacinto Scelsi darf mit Fug und Recht zu den bemerkenswertesten, ja eigentümlichsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Ab etwa 1952 verlagerte er sein Wirken radikal auf die Mikroebene des Klangs und des Einzeltons, der für ihn - lange bevor die ,Spektralistenʽ den Klang in seine harmonischen Bestandteile zerlegen sollten - ein gestaltbarer, nicht allein durch seine Höhe, Intensität und Dauer, sondern ebenso durch seine mystischen Tiefendimensionen, seine farblichen Abstufungen und Schattierungen charakterisierter Organismus war. „Der Klang“, so Scelsi, „ist sphärisch, er ist rund. [...] Alles, was sphärisch ist, hat ein Zentrum. [...] Nur wer in den Kern des Klangs vordringt, ist ein Musiker.“ Mit der Konzentration auf das Innenleben des Klangs, auf feinste dynamische und artikulatorische Nuancierungen, verwarf Scelsi neben der thematisch-motivischen Gestaltung und rational-logischen Formgebung auch das hergebrachte Tonsystem, indem er Mikrointervalle (wie Vierteltöne) zu einem selbstverständlichen Bestandteil seiner Musik machte.
    Als Scelsis Schaffen in den 1980er-Jahren einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst bekannt wurde, irritierte vor allem sein eigenwilliges Konzept von ,intuitiverʻ Musik. Denn Scelsi verstand sich nicht im herkömmlichen Sinne als Komponist, eher als eine Art vermittelndes Medium, was sich auch in seinen ungewöhnlichen Verfahrensweisen bei der Herstellung seiner Partituren widerspiegelt. Spätestens seit den frühen 1950er-Jahren zeichnete er seine meist auf dem Klavier oder der Ondioline improvisierten Klänge auf Tonbändern auf, um das so fixierte Klangresultat anschließend von seinen Mitarbeitern in Partituren transkribieren zu lassen.
    Aus dem Jahr 1957 - der Zeit, in der Scelsi begann, mikrotonale und artikulatorische Details auch mehrstimmiger Improvisationsverläufe zu fixieren - stammt das Bratschenstück manto, dessen dritter und letzter, auch die Stimme des Violaspielers einbeziehender Satz zudem in einer Fassung für vier Instrumente existiert. Neben der speziellen Vorzeichnung für die Vierteltöne, die hier nicht länger als „Abweichung“ von der temperierten Stimmung, sondern gleichberechtigt in den Tonvorrat integriert erscheinen, wies Scelsi in manto erstmals jeder der vier Bratschensaiten ein eigenes Notensystem zu. Die sich so auch in der Notation niederschlagende Mehrstimmigkeit des Stücks erweist sich jedoch nicht als ein tatsächlich kontrapunktisch angelegter Satz gleichberechtigter Stimmen. Vielmehr treten immer wieder einzelne Liegetöne als Zentraltöne, ja gleichsam als harmonische Bezugsachse hervor, wobei die anderen Töne sich über das jeweilige Intervallverhältnis zu dieser definieren und so als ihre harmonischen „Facetten“ erscheinen.

    Andreas Günther



    James Dillon: siorram

    Dem 1950 in Glasgow geborenen Komponisten James Dillon fühlt sich Garth Knox nicht allein über die gemeinsame Heimat Schottland verbunden, sondern auch - wie er einmal schrieb - im Hinblick auf dessen „sehr sensiblen Ansatz“ des Denkens über und Komponierens von Musik. Nicht zuletzt verbindet die beiden ihre musikalische Zusammenarbeit, so etwa während Garth Knoxʼ Zeit im Arditti Quartet, mit dem er Streichquartette von Dillon zur Uraufführung brachte, oder aber bei der Entstehung des Solostücks siorram von 1992, das Dillon dem Bratschisten widmete.
    Dillon schrieb dieses Stück während einer Phase, in der er sich - Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre - kompositorisch ausgiebig mit den verschiedenen Streichinstrumenten auseinandersetzte.
    Das Titelwort „Siorram“ stammt aus dem Schottisch-gälischen (wie es auf den Inseln der inneren und äußeren Hebriden, im Westen des schottischen Hochlandes sowie in Glasgow gesprochen wird) und bedeutet soviel wie „in einem verzauberten Schlaf“. Zwar beginnt das Stück in durchaus ruhiger, ja geradezu verträumter Gestimmtheit. Die zunehmend vertrackter erscheinende Rhythmik (die Dillons Nähe zur „new complexity“ in den achtziger Jahren verrät), die diffizilen, über weite Strecken mehrstimmig-polyphon verflochtenen Lineaturen, die zahlreichen spieltechnischen und artikulatorischen Besonderheiten sowie die weiter ausdifferenzierte Dynamik bringen das Stück jedoch immer mehr in Bewegung - den ruhigen Schlaf scheinen mehr und mehr unstete, sich in dichter Folge einander ablösende Traumsequenzen zu verdrängen.

    Andreas Günther



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    Marcus Antonius Wesselmann: solo 4

    Das Schaffen Marcus Antonius Wesselmanns zeichnet sich durch ein hohes Maß struktureller Vorordnungen aus. Fast alle seine Werke gründen auf Zahlenformeln, Binärcodes oder anderen mathematischen Modellen, die – permutiert oder kombinatorisch weiterentwickelt – der Organisation des musikalischen Materials zugrunde liegen. In gewisser Weise steht Wesselmann so den rationalistisch-strengen Verfahrensweisen des Serialismus nahe, wenn er großformale Prozesse, die Gestaltung einzelner musikalischer Parameter (wie Tonhöhen, Tondauern, Dynamik) oder harmonische Konstellationen, Ereignisdichten, Instrumentierungen und zuweilen auch Spieltechniken auf der Grundlage solcher Systeme realisiert. Damit vermeidet er bewusst eine sich dem Hörer allzu direkt aufdrängende Emotionalität, ohne jedoch das klangliche Resultat aus dem Blick zu verlieren. So gehört die unmittelbar wahrnehmbare Spannung zwischen strenger Konstruktion und Ordnung einerseits und der Suggestion chaotisch-desorganisierter Strukturen andererseits zu den zentralen ästhetischen Motiven seines Schaffens.
    Seit seinem szenischen Oratorium preparadise (1993–2002) nach Rainer Werner Fassbinders Theaterstück preparadise sorry now (1969) und Texten von Bertold Brecht, in dem er sich mit Formen faschistoiden Verhaltens im Alltag auseinandersetzte, lässt Wesselmann immer wieder auch politische und sozialkritische Gedanken oder Stellungnahmen in sein Schaffen einfließen. Ein solcher Hintergrund prägt auch sein solo 4 für Viola mit dem Untertitel emsland case, das 1993 als Musik zu Volker Schröders Dokumentarfilm Wenn ich in die Tiefe schaue entstand, jedoch von vornherein auch als ein für sich allein aufführbares Werk konzipiert wurde, als das es im heutigen Konzert erklingt.
    Volker Schröder, der Wesselmann um eine Musik zu seinem Dokumentarfilm bat, thematisiert in diesem die Schicksale von sechs Personen, die während des Nationalsozialismus’ in Arbeitslagern im Emsland inhaftiert waren und die nun in sechs eigenen, jeweils mit historischen Filmaufnahmen und Landschaftsbilder aus dem Emsland verbundenen Episoden zu Wort kommen. Den düsteren, befremdenden Bildern des Films korrespondiert auf der behutsam und sparsam eingesetzten musikalischen Ebene der bewusst gewählte, schwermütige Bratschenklang. Darüber hinaus spiegelt Wesselmanns solo 4 auch formal die Struktur des Filmes wider. Den sechs vorgestellten Personen entsprechen sechs ihnen gewidmete musikalische Abschnitte, die von einem Prolog und einem Epilog eingefasst werden. Jeder dieser Abschnitte besteht wiederum aus charakteristischen Material- bereichen, die von Abschnitt zu Abschnitt jeweils spieltechnisch, artikulatorisch und strukturell weiterentwickelt werden. So beginnen alle Episoden mit einem leicht wiedererkennbaren – und an eine Zwölftonreihe angelehnten – Tonfeld, das zunächst pizzikato, also gezupft, gespielt wird, im Verlauf des Stückes jedoch in klanglich immer direktere Spielweisen bis hin zum stark gepressten Ton überführt wird.» top

    Andreas Günther



    Salvatore Sciarrino: tre notturni brillanti

    Salvatore Sciarrino, 1947 in Palermo geboren, entwickelte seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – sich entschieden von der nach 1945 vorherrschenden seriellen Ästhetik absetzend – einen Stil, der das musikalische Material immer wieder an die Grenze der akustischen Wahrnehmbarkeit führt, in dem sich feinst nuancierte Klänge, ausgedehnte Momente der Stille aber auch geräuschhafte Klangeruptionen miteinander abwechseln und zu ebenso ausdifferenzierten wie flüchtigen Klanglandschaften verbinden. Obwohl Sciarrino so das Eindeutige und Greifbare meidet, er das klanglich Unbestimmte dem Manifesten vorzieht, trägt seine Musik häufig hochvirtuose Züge. Ein Beispiel dafür liefern seine 1974/75 entstandenen tre notturni brillanti für Viola solo, in denen der Bratschist einen instrumentalen „Drahtseilakt“ zu bewältigen hat. Sciarrino lässt die Virtuosität der in irrwitzigen Tempi auszuführenden Figuren und erweiterten Spieltechniken jedoch nicht mit aller Macht, sondern nur andeutungsweise und latent an die klangliche Oberfläche treten – der paradoxe, auf die Sphäre der Musik Chopins verweisende Titel „notturni brillanti“ mag diesen Widerspruch, der auch zwischen dem Instrument – der im Vergleich zur Violine etwas schwerfälligeren Bratsche – und dem virtuosen Gestus der Musik besteht, zum Ausdruck bringen.
    Tatsächlich erklingt in diesen Nocturnes nicht ein einziger „normal“, also „klassisch“ intonierter Ton. An dessen Stelle treten nun Obertöne, Arpeggien, Glissandi und Triller, die am Steg, am Griffbrett oder auch mit der Bogenstange auf den Saiten zu spielen sind. So entwirft das erste, mit „Di volo“ („Wie im Fluge“) überschriebene Nocturne ein Mosaik aus flüchtigen, jedoch kontinuierlich wiederkehrenden, dabei stets variierten Klangfiguren. Eine ähnlich, in sich bewegte Statik vermittelt auch das zweite Nocturne, das „scorrevole e animato“ („fließend“ und „lebhaft“, „bewegt“) auszuführen ist. Mit dem dritten und letzten Nocturne („Prestissimo precipitando“) lässt Sciarrino vor allem das Glissando – zuweilen auch in extrem hoher Lage – als Gestaltungsmittel hervortreten.» top

    Andreas Günther



    © h.j. kropp

    www.gyoergy-ligeti.de
    György Ligeti: sonate für viola solo

    György Ligeti, 1923 in Siebenbürgen geboren und dort aufgewachsen, nach dem ungarischen Aufstand 1956 in den Westen geflohen und mit den Uraufführungen seiner apparitions und atmosphères schlagartig bekannt geworden, hatte stets ein Faible für das Konstruktive und bis ins letzte Detail Durchstrukturierte. Seine mikropolyphon verwobenen Texturen, in denen Melodie und Rhythmus ganz in Klangfarbenübergängen und irisierenden Flächen aufgelöst erscheinen, zeigen dies ebenso wie die späten Werke ab den frühen 1980er-Jahren, in denen Ligeti Einflüsse aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Chaostheorie und der fraktalen Geometrie, afrikanischen Musikformen, der spätmittelalterlichen Ars subtilior, aber auch der Klavierwerke Chopins und Debussys sowie der Musik Conlon Nancarrows zu einer neuartigen, jenseits aller stilistischen Schubladen stehenden Musik amalgamierte.
    Immer wieder betonte Ligeti die Bedeutung des akustisch „Unreinen“ oder „Verschmutzen“, des Fremdartigen oder Doppelbödigen für sein Schaffen – etwa in Bezug auf seine ramifications, wo er die mikrotonalen Verstimmungen als bewusst „verdorbene“ Harmonien mit einem „haut goût“ bezeichnete und augenzwinkernd davon sprach, dass „Verwesung“ in die Musik eingezogen sei. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass er sich auch von dem etwas fremden, aparten Klang der Viola faszinieren ließ. „Die Violine führt“, so Ligeti, „die Viola bleibt im Schatten. Dafür besitzt die Viola durch die tiefe C-Saite eine eigenartige Herbheit, kompakt, etwas heiser, mit dem Nachgeschmack von Holz, Erde und Gerbsäure.“
    1991 komponierte Ligeti zunächst das kurze Violastück loop, das wenig später den zweiten Satz seiner (der Bratschistin Tabea Zimmermann gewidmeten) sonate für viola solo bilden sollte, aus der Garth Knox heute die Sätze Nr. 1 (hora lungă), Nr. 2 (loop), Nr. 5 (lamento) und Nr. 6 (chaconne chromatique) aufführt. Der ausschließlich auf der C-Saite zu spielende erste Satz hora lungă („langsamer Tanz“) evoziere, so Ligeti, den Geist der rumänischen Volksmusik des Maramures-Gebiets im Norden der Karpaten, ohne diese jedoch zu imitieren oder in wörtlichen „Zitaten“ heraufzubeschwören. Auch hier verfremdet Ligeti bewusst eingefahrene Hör- und Spielgewohnheiten: „Ich stellte mir indessen vor, die Bratsche hätte eine um eine Quinte tiefere, real nicht vorhandene F-Saite und deren fünfter, siebter und elfter Oberton wären dann die im temperierten System ‚falsch‘ klingenden Naturtöne. Da die F-Saite imaginär ist, bitte ich den Interpreten, die Intonationsabweichungen bewusst zu greifen. Das klingende Ergebnis ist dann eigenartig fremd. Was ich hier über den ersten Satz schreibe, gilt – entsprechend abgewandelt – für die Fremdartigkeit der ganzen Sonate.“ Der Titel des zweiten Satzes (loop), der laut Ligeti „im Geist des Jazz“, „elegant und ‚relaxed‘“ gespielt werden soll, bezieht sich auf dessen Form, in der dieselben melodische Wendungen wiederholt, dabei jedoch stets variiert und beschleunigt werden und so schließlich – durch die Doppelgriffe und waghalsigen Lagenwechsel – in eine „gefährliche Virtuosität“ (Ligeti) abdriften.
    Die im lamento vorherrschende Zweistimmigkeit mit ihren Sekund- und Septimreibungen führt Ligeti auf den indirekten Einfluss verschiedener ethnischer Kulturen auf dem Balkan, an der Elfenbeinküste und in Melanesien zurück, wo es ähnliche zweistimmige Strukturen gibt. Mit der chaconne chromatique greift Ligeti zwar auf das traditionelle Modell der Chaconne zurück, jedoch solle man hier „keine Anspielung auf die berühmte Bach-Chaconne erwarten“. „Meine Sonate ist viel bescheidener, nicht historisierend, auch verträgt sie keine Monumentalformen. Ich verwende das Wort Chaconne im ursprünglichen Sinn – als wilden ausgelassenen Tanz in stark akzentuiertem Dreivierteltakt mit ostinater Basslinie.» top

    Andreas Günther